Leseprobe
Kristin Wolz
Geranien für den König
Roman
© Verlag Kleine Schritte

 

Mark

Pflicht. Ehre. Vaterland. Ehrenkodex. So hämmerte es in Marks Kopf. Ein amerikanischer Offizier lügt, betrügt oder stiehlt nicht und toleriert dies auch nicht bei anderen. So wurde es ihm in der Ausbildungszeit eingebläut. Der Alltag sah anders aus. Alltagslangeweile nervte, Drogen machten die Runde, das Ami go home gärte unterschwellig, kritische Fragen zu kommenden Kriegseinsätzen zirkulierten. Die Auflösungserscheinungen in der DDR kratzten das kommunistische Feindbild an. Was suchte er hier? Inzwischen hatte sein geschwollener Fuß Ruhe gegeben.
Pflicht! Stramm stand er unter dem Wasserstrahl, klappte seine Hacken vorsichtig zusammen und ließ das heiße Wasser fließen bis er kochte. Er wechselte von heiß zu kalt. Als seine Lippen blau wurden, stieg er aus der Kabine. Beim Frottieren überlegte er, wie er in Deutschland ankam. Was sahen die Leute im Ahornweg 15 in ihm? Einen joggenden, Kinder anlächelnden, Frauen vernaschenden Katzenliebhaber? Einen Cowboy ohne Manieren? Er war Offizier! Wo war seine Ehre? Schließlich verteidigte er die Demokratie auch hier.
Er war Uniformträger. Ein gestandener Mann!
So unterschiedlich seine Fräuleinepisoden waren, so halfen sie alle gemeinsam etwas in sein Denken zu bringen, was vorher nicht da gewesen war: Er fürchtete den Einsatz in einem Kriegsgebiet. Bilder von Kriegsveteranen, Traumatisierten, die in Angst lebten, in deren Köpfen Filme liefen, die sie nicht wollten, die immerzu unter Strom standen, weil sie nur so überleben konnten, tauchten gegen seinen Willen auf. Denen half reden nicht, sie brauchten mehr. Wenn sie Glück hatten, fanden sie einen Therapieplatz, lernten, ihren Körper zu entspannen – ohne Drogen. Die Glücklosen versanken im Bodensatz der Gesellschaft, ohne Arbeit, obdachlos tauchten sie in Notunterkünften auf oder lagen unter Brücken, auf der Straße – ihre amputierten Glieder zeigend, um Geld für Alkohol bettelnd.
Fuck, Schluss jetzt, reiß dich zusammen, sagte er sich. Er überlegte, was es alles zu tun gab. Er musste die Wohnung räumen. Besenrein. Seine Koffer packen. Die Kater würde Betty übernehmen. Er musste sie anrufen.
Eigentlich war die deutsche Bevölkerung freundlich zu ihnen. Bis auf Ausnahmen, die Alten oder die von oben mit ihren kommunistischen Ansichten. Aber dafür gab es die andern, die für das Beschützen durch die Supermacht dankbar waren. Und es gab ... die Eine.

...

Kevin und Anna

Kevin war mit Jacqueline in sein Zimmer gegangen. Wenn Not war, hielten die beiden wie Pech und Schwefel zusammen. Und Jacqueline war in Not. Die beiläufige Bemerkung Marks, dass dies sein Abschiedsbesuch sei, fand sie gemein. Da saßen sie, redeten über Königs und dann das.
»In echt wollte der sich bloß verabschieden. Mal eben so.« Sie ließ sich auf das ungemachte Bett fallen, zog die Bettdecke über den Kopf. »Irgendwas Nettes hätte er doch ... ich meine, er weiß, dass ich ...«
Kevin drehte die Reihen seines Zauberwürfels in einem Wahnsinnstempo, rutschte auf seinem Stuhl hin und her.
»Manno, jetzt heul doch nicht. Der hat’s nich kapiert.«
Es klingelte.
»Wer is’n das um diese Zeit?«, fragte Jacqueline und lugte unter der Decke hervor.
Der rote Streifen um sein Auge dunkelte etwas.
»Ach, das. Das is wohl die von ganz oben.«
»Eine von den Zwillingen?«
»Nee, die Kleine, die Anna.«
Wie von einer Tarantel gestochen warf Jacqueline die Bettdecke von sich, fischte sich ein Tempo vom Schreibtisch, schnäuzte sich laut, löste das Gummi aus ihren Haaren, strich sie glatt und knuddelte sie im Nacken wieder zusammen.
»Oh je, was will die denn hier? Diese, diese ... Lehrertochter! Der Hammer sind die Zöpfe mit Schleifen. Das is echt ausm letzten Jahrhundert.«
»Ja, dann gehste jetzt besser«, sagte Kevin mit einem funkelnden Auge.
»Rausschmiss oder was?«, vor ihm stehend warf sie ihren Kopf in den Nacken und streckte ihre Zunge heraus. Dann drehte sie sich um. Anna hielt ihr die Hand hin.
»Guten Tag.«
Jacqueline zeigte mit dem Daumen auf ihren Bruder.
»Da hockt er.«
Kevin schnellte hoch, warf die Tagesdecke über sein Bett, wollte sie glatt streichen.
»Das brauchst du nicht. Das stört mich nicht. Mein Zimmer ist total unaufgeräumt. Ich kann gar nicht Ordnung halten.«
»Ich mag keine Unordnung. Da kann ich nich denken«, sagte Kevin.
Anna plumpste aufs Bett, schaute sich um. Ein Schlauch von Zimmer. Lindgrüne Wände. Ein halbes Zimmer, dachte sie. Gehörte die andere Hälfte seiner Schwester? Warum war sie so unfreundlich?
»Magst du Grün?«
»Wenn man schon so heißt«, Kevin lächelte.
Anna schwieg, weil sie nichts entdecken konnte, was ein Gespräch wert gewesen wäre. Erst als sie in einer Ecke eine Kiste mit Schloss bemerkte, fragte sie:
»Schatztruhe?«
»Wie man’s nimmt – meine Eisenbahn. Ich hab die Kiste bei meim Opa aufm Dachboden gefunden, und er hat sie mir geschenkt. Ich hab sie aufgemöbelt. Abgeschleift, lackiert und so.«
»Abgeschliffen«, korrigierte Anna, »dann bist du ganz schön geschickt.«
Schweigen, bis Anna feststellte:
»Wir sind ziemlich verschieden. Aber eins haben wir gemeinsam. Für andere sind wir komisch.«
»Ich bin kein Clown«, warf Kevin ein.
»Nee, aber du hast ein Glasauge und eine rote Narbe drum herum.«
Kevin zuckte zusammen. So deutlich hatte das kaum jemand angesprochen. Aber von Anna ausgesprochen, tat’s nicht weh. Er musste grinsen, weil die Wahrheit so einfach daher kam.
»Ich find dein Glasauge ziemlich hübsch. So ruhig.«
Dabei starrte sie sein linkes Auge an. »Das mit dem Auge hat was mit Mathilde zu tun. Stimmt’s?«
»Ich will da nich drüber reden, und mit dir ... mit dir neugierigen ... Rotznase schon gar nich.«
»Du kannst mich nicht beleidigen. Ich mag dich.«
Kevin schluckte.
»Wir wollen Freunde werden. Da muss ich das verstehen.«
Wie is die denn drauf, fragte sich Kevin. Is die Psycho – oder was?
»Jetzt denkst du bestimmt, ich rede wie eine Psychologin, oder?«
Er wusste nicht so recht, was er von Anna halten sollte.
»Ich bin hochbegabt. Hab einen IQ von 130, hilft mir aber nicht, wenn ich meine Bluse zuknöpfen will.«
Kevin fasste es nicht und musste lachen, so lachen, wie er seit Monaten nicht mehr gelacht hatte.
Anna saß da, ließ sich von seinem Prusten zu einem schiefen Lächeln verführen und wartete. Kevins Anfall hörte so abrupt auf, wie er begonnen hatte.
»Ich hab die angerufen?«
Anne wusste damit nichts anzufangen, was er ihr ansah.
»Na, die 110.«

 

 

Kristin Wolz | Geranien für den König | Roman | Verlag Kleine Schritte

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