Leseprobe
Marie-Sophie Michel
Dreißig Briefe an den Sommer
Novelle
© Verlag Kleine Schritte

Der Zug rollte pünktlich in den Bahnhof Roma Termini ein. Italien war auch nicht mehr das, was es früher war. Inzwischen fuhren die Züge nach Fahrplan – anders als in Deutschland. Unwillkürlich musste Lena lächeln. Bis zum Schluss hatte sie gezögert, ob sie fahren oder die Fahrkarte zurückgeben sollte. Ein Erdbeben hatte die Kirche des heiligen Benedikt in Norcia einstürzen lassen, und die Schulen in Rom waren aus Sicherheitsgründen gestern geschlossen geblieben.
Die Luft roch nach Espresso. In der lichten, eleganten Bahnhofshalle wuselten Menschen aller Hautfarben. Lena beobachtete ein paar Nonnen in leuchtend blauen Trachten. Sie warteten in der Gruppe und starrten auf die Anzeigentafel, als ob dort die Offenbarung erscheinen würde. Lena schmunzelte. Nein, natürlich warteten sie auf die Schrift mit der Gleisangabe. Erst eine Viertelstunde vor Ankunft des Zuges, erfuhren die Reisenden, auf welchem Bahnsteig der Zug einrollte, um etwaige Anschlagspläne von Terroristen zu vereiteln. Bisher hatten die islamistischen Gotteskrieger Italien verschont.
Lena war am Ziel. Führten nicht alle Wege im Leben irgendwann nach Rom? Sie folgte den Schildern zur Metro Linie B, löste ein Ticket und tauchte ein in den Untergrund.
Der letzte Zweifel verflog, sie war in Bella Italia! Die Frauen trugen Kostüme, leichte Daunenjacken, auffallend viele hielten ihre Mobiltelefone in den Händen. Wie nebenbei balancierten sie elegant ihre Handtaschen. Diese Grazie sogen die Italienerinnen mit der Muttermilch auf. Lena konnte sich noch so sehr bemühen, sicher erkannten alle sofort in ihr die Nicht-Römerin. Die Männer trugen ihre Handys meist in einer meerblauen Hülle mit sich herum. In München hatte Lena das nie gesehen. Rom ist schön und ewig. Die Römer sind schön, die Römerinnen sind schön. Bella, bellissima.

...

Caro mio,
Dein Foto in der Vergrößerung mit der schwarzen Schleife steht im Wohnzimmer. Du lächelst mir zu.
Weißt Du noch? Es war Sommer, es war Venedig. Wir tranken einen Espresso, nicht den Edelsten vom Caffè Florian für zwölf Euro, nein in einem Café nahe der Anlegestelle, mit Blick schräg rüber zum Hotel Danieli. Unzählige Kaffees hast Du in Deinem Leben getrunken, vor allem – und am liebsten – in Italien. Für einen Espresso sollte immer Zeit sein. Das war Dein Lebensmotto.
Dieser Tag in Venedig ist abgespeichert in der Favoritendatei meines Herzens. Das muss ich so hinschreiben. Damals besaß ich noch keine Digitalkamera und fotografierte nicht unentwegt. Damals machte die Seele ein Foto.
Wir verloren uns im Gewirr der Gassen und gerieten auf einer Piazza in eine Werbeveranstaltung – ich glaube ein Sportverein hatte sie organisiert. Bunte Wimpel flatterten an einer Schnur, von Lampenpfahl zu Lampenpfahl gespannt. Einige Platten mit Käse und Salami gingen von Hand zu Hand, und wir wurden freundlich dazu eingeladen, uns etwas zu nehmen, einfach so, als ob wir dazugehörten.
Du hast recht gut Italienisch gesprochen. Am Campingplatz von Ventimiglia sprach man Dich als Kind oft auf Italienisch an. Du warst schwarzgelockt. Der einheimische Junge vom Nachbarzelt, mit goldblondem Haar, wurde für einen Deutschen gehalten.
Wir tranken Vino bianco. Allmählich zerstreute sich die Festgesellschaft, die Pappbecher wurden eingesammelt, ein altes Ehepaar brach auf, ging eine schmale Straße hinunter. Der Mann trug unter seinem linken Arm einen dunkelroten Plüschsessel mit barocken Füßen, rechts hatte sich seine Frau eingehakt. In rosa Samtpantöffelchen schritt sie mit unendlicher Grandezza davon.
Wenn mich jemand nach der Liebe fragt, dann fallen mir sofort diese beiden ein. Diese Selbstverständlichkeit! Er hatte sie umsorgt, den schweren Sessel aus einem Palazzo in das italienische Wohnzimmer, die Piazza, getragen, damit sie, die Liebste, bequem dem Treiben des Festes zusehen konnte.
Arm in Arm schlenderten wir beide den Rest des Tages durch Venedig. Italien – unser Sehnsuchtsland.

 ...

Lena blieb auf der Terrasse sitzen und dachte an ihre zukünftigen Urlaubsziele. Achim und Christina würden nächstes Jahr in die Karibik fliegen. Mit wem konnte sie weitere Urlaube planen? Sie wollte keinesfalls Hannah verpflichten, es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich verliebte. Lena hatte viele Freundinnen und Freunde, aber wer konnte sich von seiner Familie loseisen? Diejenigen, die Zeit hatten, konnten sich entweder keinen Urlaub leisten oder andere waren chronisch krank. Mit Anfang zwanzig waren alle ungebunden und frei. Mit Mitte fünfzig eilten die meisten rastlos durchs Leben. Da fuhr niemand mit einer Freundin für zwei Wochen weg.
Erst im Ruhestand trafen sich die Senioren zur gemeinsamen Freizeitgestaltung. Manche der Golden Agers zahlten sogar mit der goldenen Mastercard. Aber die große Masse der anderen?
Die verbleibende Restzeit ihres Lebens wollte Lena nicht von Termin zu Termin hetzen. Irgendwie die Zeit rumzubringen, das war nicht ihr Ding. Der Augenblick zählte, die kleinen Momente des Glücks waren für sie eher kontemplativer Art: Lesen, Schreiben und Schwimmen. Im Wasser für ein paar Momente der Schwerkraft entfliehen, sich leicht fühlen, schweben.
Lena kannte von Kind an das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen. Nun saß sie zwischen zwei Lebensphasen. Die Halbzeit war wohl vorbei mit fünfzig. Was folgte nun?
Ihr Vater war dieses Jahr achtzig geworden. Sie hoffte, er bliebe weiterhin gesund. Ein Pflegefall in der Familie würde sehr anstrengend werden. Da erübrigten sich Reisegedanken.
Beim Abendessen war das Wort Rom gefallen. Lena dachte an die Briefe, die sie kurz vor der Abfahrt in einer Schachtel gefunden hatte, im Keller, bei der Koffersuche.
In den Briefen von Raffaela war Karl noch jung und lebendig. Hätte er eine Chance gehabt, in Rom ein Architekturbüro zu eröffnen?
»Schau, wieder ein Pott«, rief Achim und deutete auf das Meer. Es war kurz vor Mitternacht und von Sorrent aus nahm ein Kreuzfahrtschiff hell erleuchtet Kurs auf Capri, wahrscheinlich fuhr es durch die Nacht weiter nach Sizilien.
Am nächsten Morgen rief Christinas alter Herr beim Frühstück an.
Sie stellte das Handy laut, und alle hörten mit. Der Opa sagte nicht viel, Lena spürte, ihm fehlten Enkel und Tochter. Ja, in Deutschland war es auch heiß. Die Stimme des alten Mannes klang ein wenig brüchig, als er alle grüßte, auch Hannah und Lena. Plötzlich purzelten Lena heiße Tränen herunter. Das passierte oft, etwas ging ihr zu Herzen und sie schwamm in Traurigkeit. War es die Altersstimme von Christinas Vater gewesen?
Sie sprang vom Frühstückstisch auf und wusch sich das Gesicht am Waschbecken in ihrem Zimmer, versuchte, den normalen Atemrhythmus wiederzufinden. Zurück an ihrem Platz stand Christina auf und nahm sie in die Arme: »Du bist eh so tapfer.« So hatte sich Lena noch nie gesehen.
Hannah saß da mit eingefrorener Miene. Das war ein Blick, den Lena zu gut kannte. Verachtete die Tochter die Mutter in diesem Augenblick? Mütter mussten stark sein und immer gut aufgelegt.
Achim schlug vor, nach Positano aufzubrechen. Allein der Klang des Wortes Positano war Musik in Lenas Ohren.
Die Geschichte des Ortes verliert sich etwas im Dunkel. Im 19. Jahrhundert war der Ort jedenfalls nur auf einem Pfad mit dem Esel erreichbar gewesen. In den Jahren 1933 bis 1945 wurde Positano Zufluchtsort für viele deutsche Künstler.
Nach dem Krieg veröffentlichte John Steinbeck einen berühmten Essay: »Der Ort ist ein Traum, den Sie nicht für wahr halten, bis Sie nicht einmal dort gewesen sind.«
Diesem Traum folgten viele, einige gestanden, süchtig zu sein: Liz Taylor, Tennessee Williams. Lena hatte vollstes Verständnis für diese Droge des Südens.
In den Siebzigern und Achtzigern folgten Maler, Hippies, Aussteiger. Allmählich verkam Positano zu einem mondänen Touristenort. Angeblich wurde hier 1959 der Bikini in Italien erstmals getragen.
Die bunten Häuser mit ihren Arkadenbögen krallten sich fest an den Hügelüberhang – wie Miniaturen oder Teile einer Puppenstube. Die Steilküste schien so wild, und die Amalfitana schlängelte sich mit ihre berühmten Haarnadelkurven durch diese einmalige Landschaft.
Normalerweise entfachte die Idee eines Ausflugs eine Diskussion, wie viele Wasserflaschen mitzunehmen seien und so fort. Heute jedoch murrte niemand.
Fabian kämpfte in jeder Kurve mit Übelkeit, ansonsten genossen alle den atemberaubenden Ausblick auf die Steilküste. Divina lautete ihr Beiname, die Göttliche.
Die Zufahrt nach Positano verzögerte sich etwas, eine Haarnadelkurve war abgesperrt.
»Schaut, Filmaufnahmen!«, rief Christina aus.
Tatsächlich stand eine Schauspielerin an einen roten Ferrari gelehnt, im Hintergrund posierten eine Hotelterrasse, Bougainvilleen, Palmen und die Steilküste über dem Meer.
»Soll ich aussteigen und um ein Autogramm bitten?«, grinste Achim verschmitzt.
»Lieber nicht!«, rief Fabian vom Rücksitz aus.
»Karl hat im November 1981 vier Wochen hier verbracht und den Hauptteil seines Krimis geschrieben«, erzählte Christina. »Im Roman erwähnt er auch Positano, es war sein Lieblingsort, auch wenn der Anfang der Geschichte in Tirol spielt. Ist lustig zu lesen, empfehle ich dir, liebe Hannah. Irgendein Spaßvogel hat sogar die Anzahl der Schnäpse gezählt, die im Buch getrunken werden.«
1981 war ein Jahr mit Raffaela, dachte Lena im Stillen.

 

Marie-Sophie Michel | Dreißig Briefe an den Sommer | Novelle | Verlag Kleine Schritte

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